Wie ein einziges Event einen ganzen Sport verändert

The Night of the 10,000m PB’s: ein Lebenselixier für den britischen Laufsport.

Einige Passanten spähen neugierig über das Geländer in Richtung der allmählich wachsenden Ansammlung von Zelten, Gerüsten und riesigen Bildschirmen, die auf dem Parliament Hill Athletics Track aufgebaut werden. Es ist neun Uhr an einem heißen Morgen im Londoner Park Hampstead Heath. Die Londoner Skyline glitzert bereits im Sonnenlicht. In nur wenigen Stunden wird dieser Ort als brodelnder Kessel voller Musik, Bier und Gelächter zum Leben erwachen. Man könnte meinen, hier wird ein Konzert vorbereitet, aber nein, es geht um einen Wettlauf – ein „Track Race“, wie die Briten sagen. Um genau zu sein, dreht sich alles um die 10.000 Meter, eine traditionell eher stiefmütterlich behandelte Disziplin der Leichtathletik.

Die Night of the 10,000m PB’s – die „Nacht der persönlichen Bestleistungen im 10.000-Meter-Lauf“ – ist eine Veranstaltung der ganz besonderen Art in Großbritannien, wahrscheinlich sogar richtungsweisend für den Rest der Welt. Seit sie im Jahr 2013 zum ersten Mal stattfand, hat sie sich als eines der zentralen Elemente des britischen Vereinslaufsports, des Club Running, etabliert. Viele britische Vereine für Leichtathletik wurden im frühen 20. Jahrhundert oder noch früher gegründet. Und eben diese gewachsene Tradition bringt heute Probleme mit sich, denn die Welt des Sports ist schnelllebiger geworden, viele Disziplinen tun sich schwer dieser Entwicklung Rechnung zu tragen – und so schwindet die Anziehungskraft der Leichtathletik.

„Ich denke, dass die Entscheidungsträger manchmal nicht den Unterschied zwischen den Wünschen der eingefleischten Fans und denen junger Menschen erkennen“, sagt der Olympionike und begeisterte Zuschauer Ross Murray. „All die Baby Boomer, also Menschen in ihren 40ern - 60ern, planen Veranstaltungen, von denen sie denken, dass sie bei den Millenials gut ankommen. Aber ich befürchte, dass sie das meistens nicht ganz hinbekommen.“

Die Night of the 10,000 PB’s hat sich nun als Heilmitte für den britischen Laufsports herausgestellt. Obwohl man eher erwartet hätte, dass ein Sprintwettkampf oder ein kurzes Format die Leichtathletik-Fans interessiert. Aber nicht die 10.000 Meter.

Die Idee für diese Veranstaltung stammt vom Organisator Ben Pochee, der selbst unzufrieden war. Das Training machte Spaß. Es gab scherzhafte Sticheleien, Witz und Kameradschaft, aber am Tag des Wettlaufs war all das verflogen. „Als wir begannen, wollte ich mit einer Veranstaltung die ganze Atmosphäre und persönliche Note transportieren, die in unseren Trainingsgruppen und durch die Rivalität zwischen Ortsvereinen besteht.“

Verfolgt man die Night of the 10,000 PB’s, wird klar, dass Ben seine Vision erreicht hat. Der Tag beginnt mit den „langsameren“ Sportlern, bei denen die Frauen die 10.000 Meter in etwa 35 Minuten und die Männer in rund 33 Minuten bewältigen, und steigert sich allmählich zu seinem Höhepunkt, nämlich europäischen Spitzenläufern beim European Cup. Beim Wettlauf der Frauen fliegt die britische Sportlerin Steph Twell über die Strecke und siegt mit atemberaubenden 31 Minuten und 8 Sekunden. Ein einzigartiger Vorteil der Night of the 10,000m PB’s ist, dass die Zuschauer die Läufer aus nächster Nähe von Spur drei aus anfeuern. Dies betonte auch die Sportlerin Verity Ockenden, als sie in Highgate lief „Die schiere Anzahl der Menschen und wie nah sie mir waren, das war das Erste, was mir auffiel. Man kann spüren, wie das ganze Publikum mitfiebert.“

„Die schiere Anzahl der Menschen und wie nah sie mir waren, das war das Erste, was mir auffiel. Man kann spüren, wie das ganze Publikum mitfiebert.“

Das Publikum bis auf Spur drei an die Läufer heranzulassen, war nur die erste Neuerung der Night of the 10,000m PB’s. Außerdem wird Bier ausgeschenkt und Musik gespielt und seit diesem Jahr kündigt anstatt der traditionellen Glocke ein riesiger Gong die letzte Runde an. Die Brücke über der Zielgeraden, über die die Fans in den inneren Bereich des Sportplatzes gelangen, ist wahrscheinlich Bens liebste Neuerung.

„Ich finde es einfach fantastisch, dass die Zuschauer jetzt den heiligen Rasen betreten können. […] Hinsichtlich dessen, was erlaubt ist und was nicht, möchten wir mit der ein oder anderen Konvention brechen.“ – Ben Pochee

„In gewisser Hinsicht widerspricht die Night of the 10,000m PB’s dem herkömmlichen Laufsport, wie wir ihn in Vereinen und Gruppen praktizieren: Man ist ausgelassen und hat Spaß, während die Sportler bei lauter Musik ihr Können zeigen. Doch auf andere Weise ist es immer noch wie genau wie immer, und zwar im besten Sinne. Denn auch wenn es sich mit einem neuen Anstrich präsentiert, begeistern sich sowohl die Zuschauer am Streckenrand, wie auch die noch nach Mitternacht mit dem Abbau beschäftigten Freiwilligen sowie die Spitzensportler selbst für diesen Sport. Nicht alle treiben ihn auf höchstem Niveau oder laufen überhaupt selbst, aber in dieser Szene finden sie eine Gemeinschaft und fühlen sich zugehörig. „All diese unzähligen verschiedenen Menschen, die an diesem Tag zusammenkommen und dieses Event möglich machen, beweisen, dass es diese Szene bei uns gibt“, sagt Ben.

„Highgate Harriers, der veranstaltende Verein, besteht bereits seit 1879 und ist, wie auch der deutsche Sportverein, eine von Freiwilligen getragene Vereinigung. […] Und im Kern ist diese Philosophie der Freiwilligkeit, einen Beitrag zu leisten, damit Menschen Laufsport betreiben können, genau das, wofür auch die Night of the 10,000 PB’s steht. Und ich denke, so viele Menschen haben sich von der Veranstaltung angesprochen gefühlt, um sie noch besser zu machen, weil sie sich mit ihr identifizieren können.“

Mit Ben Pochee hat die Lauf-Vereins-Szene einen gefunden, der dem Sport zum nächsten Entwicklungssprung verhilft. „Die Idee kam von jemandem, der in der Vereinskultur verwurzelt und selbst ein großer Anhänger der Leichtathletik ist. Er weiss, was diese Disziplin braucht, und was die Fans wollen“, sagt Ross.

Die Sportler wollten keine Alternative zum Laufverein, sie wollten etwas, das auf den Qualitäten beruht, die den Laufverein so besonders machen – Gemeinschaft, Kameradschaft und der Kontakt mit Gleichgesinnten. „Sie möchten irgendwo hingehören. Selbst sehr gute Läufer werden irgendwann langsamer, aber oftmals bleiben sie trotzdem Vereinsmitglieder, da sie Teil von etwas Grösseren sein möchten“, sagt Ben.

„Und das ist auch ein Aspekt der Veranstaltung: Menschen möchten Teil von ihr sein, da es ihnen ein gutes Gefühl gibt. Es ist Sport, alle helfen ehrenamtlich und möchten etwas schaffen, woran sich Zuschauer wie Sportler erinnern.“

Von außen sieht die Veranstaltung wie eine riesige Party aus. Und wie bei allen guten Partys kommt es vor allem auf die Gäste an, nicht auf das Unterhaltungsprogramm. Die Flammenwerfer, der Alkohol, die Musik und der „lactic tunnel of love“, in dem die Läufer auf den letzten Metern die Unterstützung ihrer Fans hautnah erleben können, machen das Event unverwechselbar. Aber was es wirklich auszeichnet, ist die Sportlergemeinschaft. Jeder spürt, dass diese Veranstaltung nur für sie ist. Und das gilt es auszukosten.

„Ich liebe meinen Sport. Das Ganze ist echt cool, und davon möchte ich auch andere überzeugen, indem ich ihnen zeige, dass man auf der Veranstaltung wirklich Spaß haben kann.“ – Ben Pochee

Als Flammen in die Luft schießen und der diesjährige Gewinner – der italienische Läufer Yemaneberhan Crippa – unter tosendem Beifall die Ziellinie überquert, macht diese kleine, abgeschlossene Welt im Norden Londons tatsächlich einen ziemlich coolen Eindruck. Dank der Night of the 10,000m PB’s könnten sich nun einige Briten mehr für Club Running interessieren.

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