Ein 100 Meilen Rennen: Warum es um mehr als nur das Laufen geht.

“Die meisten hielten mich wohl schlicht für verrückt!” erzählt uns lachend Jeanette Wang, Mutter die derzeit in Hong Kong lebt. Verrückt ist ein Wort, das man oft hört wenn es um den Ultra-Trail du Mont Blanc (UTMB) geht. Der UTMB ist ein Trail Rennen über mehr als 160km rund um den Mont Blanc- und gleichzeitig das wahrscheinlich berüchtigste Rennen der Szene. Teilnehmer müssen über 10.000 Höhenmeter überwinden, also mehr als die Höhe des Mount Everest. Ein Rennen also, das nichts für...sagen wir “Weicheier” ist… aber ist es wirklich nur für Verrückte?

Vor wenigen Jahren noch war die Marathondistanz als verrücktes Unternehmen verkannt. Wer heute aber von diesem Vorhaben erzählt bekommt in der Regel mehr Bestätigung als Erstaunen. 160km- also die klassische 100 Meilen Distanz dagegen ist eine andere Dimension. Für Otto Normalverbraucher ist es geradezu unvorstellbar, dass so etwas Spass machen kann. In jüngster Zeit aber übt diese Distanz - und namentlich der UTMB - eine geradezu magnetische Kraft auf Läufer aus aller Welt aus. Neben zahllosen Trainingsstunden ist extreme mentale wie physische Ausdauer gefordert. Der UTMB wird zu einem echten Lebenstraum.

Was motiviert die Teilnehmer? “Im Rahmen der Vorbereitung kommt immer genau diese Frage irgendwann auf und ich frage mich: ist es das wirklich Wert?” verrät uns Ian Lye der die 100 Meilen bereits einmal absolviert hat.

Ein fragwürdiger Start

Zum erstaunen vieler muss man nicht mit einer Liebe oder gar Leidenschaft fürs Laufen geboren werden um ein 100 Meilen Finisher zu werden. Es kann sogar genau andersherum sein: “Ich mochte das Laufen am Anfang überhaupt nicht. Neben meiner Schule in Singapur lag die bekannte Einkaufsmeile Orchard Road und anstatt im Sportunterricht zu schwitzen habe ich geschwäntzt und sass in der Zeit bei McDonalds oder war beim einkaufen!” gesteht uns Jeanette.

“Ich hasste es sogar,” bestätigt Ian. “Ich konnte einfach nicht verstehen wie man es geniessen kann rauszugehen und zu laufen- ganz ohne Grund.”

Sogar für Profis war die Ultra Distanz eine Festung die erst mal eingenommen werden musste: “Nach meinem ersten Ultra war ich erst mal stolz. Sagte mir aber im selben Atemzug: Das machst du nie wieder, so ein Blödsinn. Ich schau mir alle Teilnehmer an, wie sie sich ins Ziel quälen… warum machen die das alle?” sagt Elite Läuferin Sproston.

Der Berg ruft

Fakt ist: 100 Meilen zu laufen wird richtig weh tun. Punkt. Und obwohl es längere, heißere und Strecken mit mehr Höhenmetern gibt, so bleibt es doch der UTMB der eine ganz besondere Anforderung an seine Teilnehmer stellt. Die Pfade der Alpen sind technisch anspruchsvoll und - entgegen der allgemeinen Annahme - sind es gerade die bergab Strecken die so anstrengend sind. Die Belastung auf die Oberschenkel sind so gross, dass viele der Teilnehmer noch Wochen nach dem Rennen rückwärts die Treppen runterlaufen.

Eine weitere Besonderheit des UTMB ist die Startzeit. Um 18 Uhr wird losgelaufen, das bedeutet die Läufer starten eigentlich direkt in eine Nacht in den Bergen. Genauer: Eine von zwei Nächten für den Großteil der Starter. Eine Herausforderung auf bekannten Straßen- eher schon eine Bedrohung auf kleinen Pfaden rund um einen unbekannten Berg in hochalpinem Gelände!

“Vielleicht liegt es daran, dass wir nicht mehr genug Herausforderungen in unserem Alltag finden, deshalb schaffen wir uns diese Herausforderungen künstlich,” meint Amy. In unserem Alltag dreht es sich doch meist darum das Unwohlsein zu minimieren. Ein 100 Meilen Rennen scheint das ziemliche Gegenteil davon zu sein. Es mag so scheinen, als wirke dieses Unwohlsein auf die Teilnehmer wie das Licht auf die Motte- Ian, Jeanette und Amy teilen jedoch noch eine andere Motivation: es geht schlicht um das Unüberwindbare um seine Ziele zu erreichen. Die Komponente des Unwohlseins wird dabei schlicht akzeptiert.

“Ich verfolge diesen Traum jetzt seit 5 Jahren, ich zieh das durch, egal was kommt,” gibt sich Ian selbstbewusst. “Denn egal wie lange ich da drin hänge, es ist auf jeden Fall der kleinere Preis im Vergleich zur Enttäuschung wenn ich abbreche und es nicht wirklich notwendig war!”

Wenns hart wird

Was genau treibt die Teilnehmer eigentlich an, wenn sie keine reinen “Schmerz Junkies” sind? Wie werden die 100 Meilen zu soch einem Traum? Für sowohl Ian als auch Jeanette - beide stolze Eltern - sind ihre Kinder wichtige Quellen der Inspiration.“Vor der Geburt meiner Tochter, war ich in erster Linie motiviert vom Stolz ein Rennen zu beenden.” sagt Jeanette.

“Nach der Geburt meiner Tochter im Juni 2014 denke ich oft an sie. Ich habe ihre Stimme in meinem Kopf und sie motiviert mich: Je schneller ich laufe, desto früher kann ich sie sehen!”

Ian nimmt gedankliche Bilder mit, die ihn an seine Tochter erinnern wenn es hart wird. “Dieses Jahr habe ich sogar ein kleines LEGO Männchen von ihr mitgebracht. Wenn ich nicht mehr kann, hol ich es raus und es erinnert mich an sie.” sagt er mit leuchtenden Augen. “Bevor ich abreiste habe ich sie gefragt ob ich diese Figur mitnehmen darf. Zunächst sagte sie Nein, am Ende stimmte sie aber zu und jetzt ist es eine Erinnerung, dass ich diesen Lauf für meine Tochter laufe.”

Die Ziellinie

Nach bis zu 46 Stunden da draussen kommen die Teilnehmer wieder in Chamonix an, dem Hafen der Trail Runner umgeben von steil aufragenden Bergen und Felsen. Wer in der Woche des UTMB in Chamonix unterwegs ist mag sich inmitten eines wirklichen Kults wiederfinden deren Teilnehmer neon farbene Funktionsklamotten tragen und unglaublich trainierte Waden zu Schau stellen. Ein weiteres Phänomen des UTMBs sind die Zuschauer und Unterstützung. Deren Ausdauer steht der Ausdauer der Teilnehmer in nichts nach: Wirklich jeder Teilnehmer wird angefeuert und wie ein Superheld behandelt.

Die Zuschauer üben eine magische Kraft auf die Teilnehmer aus- aber bei vielen von ihnen scheint es so, als wären sie genauso unterwegs, ganz allein und für sich selbst. “Am Ende will ich bloss eins: Diese eine letzte Kurve runter zur Kirche. Egal ob am 5 oder 6 Uhr morgens und keiner schaut zu. Das würde mir eine Menge bedeuten.” sagt uns Ian.

Die Zuschauer, die Bergkulisse, der Schmerz… es gibt eine Menge Gründe warum ein 100 Meilen Rennen eine derartige Anziehung ausübt. Aber nichts davon allein scheint den Nagel auf den Kopf zu treffen. “Es ist fast unmöglich zu beschreiben” versucht Jeanette zu erklären.

“Du kannst jeden einzelnen der Finisher fragen, am Schluss ist es dieses ganz besondere Gefühl wenn du über die Ziellinie nach einem derart langen Rennen trittst. Das ist schwer in Worte zu fassen.”

Der unglaubliche mentale Fokus, die Erleichterung über den Sonnenaufgang nach einer durchlaufenen Nacht, die einsetzende Müdigkeit nach über 24 Stunden Aktivität, all das ist schwer oder unmöglich in Worte zu fassen. Aber es ist genau dieses Element, dass die Teilnehmer antreibt und entfacht. So viel Emotion die nicht in Worte zu fassen ist, aber dieses Rennformat eben gerade ausmacht.

“Letztes Jahr kam ich um ca 6 Uhr ins Ziel. Kaum jemand war da, vielleicht 10 Leute. Ein kleiner Antiklimax” erinnert sich Ian. “Aber dieser Moment gehörte mir ganz allein. Ich musste ihn gar nicht geteilt haben, es war perfekt in den Nachthimmel nach oben zu schauen und zu wissen das ist jetzt geschafft! Es ist nicht länger bloß ein Traum. Danach sass ich noch für eine gute Stunde im Zelt beim Ziel und habe einfach alles in mich aufgesogen.”

Der UTMB. Mythos mit unglaublicher Anziehungskraft. Wir freuen uns schon auf die kommenden Jahre.

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